StartEnergieDie Energieversorgung im Stresstest

Die Energieversorgung im Stresstest

„Wir sind Teil eines Großversuchs“

Der Blackout auf der iberischen Halbinsel am 28. April war einer der bislang größten in Europa. Auch wenn versichert wird, in Deutschland könne so etwas nicht passieren: Die Energiewende hat durchaus das Potenzial, unsere Versorgung vor Probleme zu stellen. Aus aktuellem Anlass stellen wir das Ende Januar geführte Interview mit Herbert Saurugg (dem Präsidenten der Gesellschaft für Krisenvorsorge, internationalen Blackout- und Krisenvorsorgeexperten und ehemaligen Berufsoffizier des Österreichischen Bundesheeres) noch einmal zur Verfügung.

Herr Saurugg, beginnen wir mit einer kernigen Schlagzeile der SZ.de (vom 8. Januar 2025). Sie lautet apodiktisch: Die Energiewende ist nicht mehr zu stoppen. Stimmt das aus Ihrer Sicht?

Herbert Saurugg: Es kommt auf die Perspektive an. Ich fürchte, da werden uns noch einige Überraschungen blühen. Die Energiewende ist ja bisher eigentlich nur eine Stromwende, die auf dem Ausbau der wetterabhängigen erneuerbaren Energien beruht. Wenn man das Grundprinzip der Stromversorgung versteht, dann tritt ein gewisser Zweifel auf. Die Stromversorgung funktioniert so, dass permanent genauso viel Strom produziert werden muss wie gerade verbraucht wird. Und das ist reine Physik. Die ist nicht verhandelbar, sie hat sehr harte Grenzen. Das, was mich überrascht, ist die Tatsache, dass es noch immer funktioniert.

Es gibt einen wichtigen Grundsatz: Komplexe Systeme sind Meister im Puffern, sprich: im Ausgleichen von Störungen. Aber wenn der Kipppunkt erreicht ist, dann treten abrupt unbeherrschbare Prozesse auf, die eine enorme Wirkung entfachen können.

„Es herrscht Zweckoptimismus“

In den Fragen der Versorgungssicherheit herrscht deshalb eher Zweckoptimismus. Kennen Sie das Truthahn-Phänomen? Der Truthahn gewinnt mit jeder Fütterung steigendes Vertrauen in seinen Besitzer, weil der ihn gut versorgt. Dass der Truthahn letztlich im Backrohr landet und daher am Tag der Schlachtung eine böse Überraschung erlebt, nun ja.

Herbert Saurugg
Herbert Saurugg

Zweckoptimismus bedeutet: Mit jedem Tag, an dem das Energiesystem stabil ist, werden jene, die Grundsätzliches nicht verstehen, bestärkt. Und irgendwann kommt für uns alle dann die böse Überraschung.

Das Fatale: Auf den Managementebenen der Stromwirtschaft sitzen häufig Juristen und Betriebswirte, die den Technikern wenig Gehör schenken und die auch einen gewissen Konformitätsdruck haben.

Halten Sie die grüne Transformation und das strikte Einhalten der Klimaziele grundsätzlich für alternativlos oder überzogen?

Herbert Saurugg: Zunächst einmal: Das Klimaproblem ist real. Die Politik der Klimaziele läuft allerdings falsch, da sie nicht global koordiniert wird und von Inkonsistenzen durchsetzt ist. Klimapolitik funktioniert nur global. Wenn Länder wie China oder Indien nicht auf ihre Wohlstandsentwicklung verzichten wollen, was verständlich ist, dann hat das, was wir machen, keine Relevanz. Das heißt nicht, dass wir nichts machen sollen, aber wir sollten das im globalen Kontext sehen und auch tun.

„Wahnsinn, die Atomenergie abzuschalten“

Daher ist es eigentlich Wahnsinn, wenn die Kernenergie in Deutschland abgeschaltet und das jüngste Kohlekraftwerk in Hamburg abgebaut wird. Das ist inkonsistent. Viele Schritte passen nicht zueinander. Es gibt das sogenannte Pareto-Prinzip. Es besagt, dass mit 20 Prozent des Aufwands 80 Prozent der Ziele erreicht werden können – und umgekehrt. Wenn ich aber sage: Ich bin schon auf einem hohen Niveau und versuche jetzt, die letzten 20 Prozent mit 80 Prozent des Aufwands, der dafür erforderlich ist, zu bewältigen, dann wären diese Mittel wesentlich besser eingesetzt, wenn ich sie in die genannten Wachstumsökonomien, die sich Umweltschutz nicht leisten können, investiere. Wenn wir da unterstützen, würden wir global wirklich etwas für den Klimaschutz tun.

Ein wichtiger systemischer Grundsatz lautet: Nur wer das Ganze kennt, kennt auch die Details und nicht umgekehrt. Viele Akteure glauben jedoch, wenn man im Detail gut ist und das versteht, dann braucht man das doch nur skalieren. Das ist meistens falsch. Man muss das Ganze und seine Zusammenhänge verstehen.

Interessant ist eine Aufschlüsselung der Daten vom 6. November 2024. Die Nachfrage nach Strom betrug an diesem dunklen Tag 66 GW. Sie wurde gedeckt durch 53 GW verfügbare heimische Produktion und 13 GW Importe. An einem Tag mit einer höheren Spitzenlast (von bspw. 75 GW am 15. Januar 2024) wäre mit ähnlichen Beschaffungsmengen die Versorgungssicherheit nicht gewährleistet. Brauchen wir also Ersatzkraftwerke, um das Energieangebot abzusichern, wie es bspw. RWE-Chef Markus Krebber fordert?

Herbert Saurugg: Ja, In den Monaten November und Dezember gab es Tage, an denen die heimische Stromproduktion nicht ausreichte. Es gibt immer wieder Zeiten, in denen de facto null erneuerbarer Strom erzeugt werden kann. Dann sind Lösungen gefragt.

Es gibt mehrere Möglichkeiten. Nummer eins: konventionelle Reservekraftwerke. Nummer zwei: Batteriespeicher. Nummer drei: Abschaltung. Ich produziere nicht und schalte die Versorgung regional und temporär ab. Das ist preiswerter, als alles mit Kraftwerken abzudecken. Wenn man aber auf so einem hohen Niveau wie in Deutschland lebt, dann sagt man nicht einfach: „So, jetzt lassen wir einfach mal den Strom für zwei Stunden abschalten“.

„Störungen nehmen zu“

Industrieunternehmen berichteten in letzter Zeit immer häufiger von kurzen Unterbrechungen (im Millisekundenbereich bis zu drei Minuten) in der Stromversorgung. Was läuft da schief? Müssen wir uns daran gewöhnen?

Herbert Saurugg: Grundsätzlich werden Ausfälle erst ab drei Minuten statistisch erfasst. Daher wissen wir nicht, was unterhalb der drei Minuten passiert. Es gibt viele Meldungen, dass Störungen in diesem Bereich massiv zunehmen, aber das ist, wie gesagt, nicht erfasst. Und über drei Minuten, da muss man ganz klar sagen, dass Deutschland hier Weltmeister ist mit 10 bis 12 Minuten Ausfall im Durchschnitt pro Kunde und Jahr. Es gibt niemand, der nur annähernd dorthin kommt. Es ist daher zwingend notwendig, auch den Bereich unter drei Minuten genauer zu betrachten und mögliche Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Denn es kann nicht sein, dass die Kunden auf den Schäden sitzen bleiben.

In den vergangenen drei Jahren gab es mehr als 40.000 Eingriffe zur Stabilisierung der Stromnetze. Steuert Deutschland permanent auf Energieengpässe und temporäre Blackouts zu?

Herbert Saurugg: Die Zahl der Eingriffe hat, verglichen mit der Situation vor 20 Jahren, drastisch zugenommen. Das hat aber noch nichts mit drohenden Blackouts zu tun. Eingriff bedeutet nur, dass Kraftwerke in einem Netzabschnitt je nach Situation zu- oder abgeschaltet werden. Das Problem ist, dass wir nicht wissen, wo die Obergrenze liegt und wie weit wir von gefährlichen Kipppunkten entfernt sind. Auf jeden Fall gerät das System zunehmend unter Stress.

Wir sollten auch den Begriff „Blackout“ klar definieren, weil da auch viel Unsinn im Umlauf ist. Wenn ich von einem Blackout spreche, dann geht es um einen überregionalen und länger anhaltenden Strom-, Infrastruktur und Versorgungsausfall. Das ist etwas komplett anderes, als ein regionaler Stromausfall, wie wir ihn kennen. Sobald eine gewisse Überregionalität gegeben ist, treten Kaskadeneffekte auch in allen anderen Infrastruktur- und Versorgungsbereichen auf. Dann wird beispielsweise die Telekommunikation in den meisten Regionen spätestens nach 30 Minuten ausfallen. Und dann ist es nicht wie bei einem normalen Stromausfall, wo danach sofort alles wieder normal funktioniert. Die größte Unsicherheit ist eben der Wiederanlauf.

Glücklicherweise sind solche Ereignisse sehr selten. Im vergangenen Jahr zum Beispiel auf dem Balkan, zum dritten Mal nach 1976 und 2003 in Kontinentaleuropa.

„Blackouts sind dramatisch!“

Bei einem Blackout zerfällt die Gesellschaft in Kleinstrukturen und wir können uns nicht einmal lokal wirklich helfen. In der Logistik geht nichts mehr. Kein Zahlungssystem funktioniert. In Deutschland ist dann auch die Wasserversorgung oft ein Problem. Meiner Einschätzung zufolge liegt die Grenze bei sechs Stunden. Nach etwa sechs Stunden großflächigen Ausfalls wird eine Kettenreaktion in allen anderen Bereichen losgetreten. Je länger der Strom ausfällt, desto schwieriger wird es, die ausgefallenen Systeme wiederherzustellen. Ab 48 bis 72 Stunden wird es katastrophal, weil dann in den Kernsystemen massive Hardware-Schäden und Software-Störungen zu erwarten sind. Wenn die Telekommunikation nicht wiederhergestellt werden kann, gibt es keine Logistik. Und ohne Logistik gibt es keine Versorgung. Und wir wissen, dass ein Großteil der Bevölkerung sich maximal ein paar Tage selbst versorgen kann. Ein Blackout ist ein wirklich dramatisches Ereignis.

Was ist dran an dem Szenario, dass wir bei mittlerweile insgesamt 101 GW Solarkapazität (von denen ca. zwei Drittel nicht steuer- oder abschaltbare Dachanlagen sind) und einem maximalen Stromverbrauch von ca. 85 GW in Deutschland erstmalig auf potentielle Brownouts zusteuern?

Herbert Saurugg: Derzeit häufen sich die Warnungen vor der Zeit zwischen Ostersonntag und Pfingsten, also vor verbrauchsschwachen Sonn- und Feiertagen, an denen es bei hoher Produktion durch Sonne und Wind zu Überlastungen kommen könnte. Da stoßen wir unter Umständen schon an Grenzen.

Das ist derzeit schwer einzuordnen. Die Diskussion ist polarisiert, die eine Seite sagt: Es gibt zu viele Anlagen, die nicht steuerbar sind, daher gibt es ein nicht beherrschbares Risiko für diese sogenannten Hellbrisen. Dann gibt es die andere Seite, die sagt: Nein, es ist kein Problem. Es wird sich in der Praxis zeigen. Wir sind diesbezüglich Teil eines Großversuchs.

RWE-Chef Markus Krebber hält die Rückkehr zur Kernenergie aufgrund der Vorlaufzeit von fünf bis sieben Jahren für keine gute Idee. Hat er recht?

Herbert Saurugg: Ja, das Thema Atomkraft ist kurz- und mittelfristig in Deutschland durch. Wenn ein Meinungsumschwung käme, dann dauert der Wiederaufbau der gesamten Atomwirtschaft 10 bis 15 Jahre, mindestens. Da muss also schon ein großer Wille vorherrschen. Es war fahrlässig, die bestehenden, funktionierenden und weltweit sichersten Atomkraftwerke abzuschalten und in Kauf zu nehmen, dass die Kohle weiterlaufen wird, höchstwahrscheinlich auch über das Jahr 2030 hinaus. Denn die Entscheidung über die notwendigen Gaskraftwerke wurde immer noch nicht getroffen.

Was halten Sie von dem Gedankenspiel (von bspw. DIW-Chef Marcel Fratzscher), energieintensive Industrien nicht weiter zu stützen, sondern dorthin abwandern zu lassen, wo Energie preiswerter ist?

„Gefährdung des Wohlstands“

Herbert Saurugg: Herr Fratzscher ist ziemlich umstritten. Wenn wir Klimaschutz betreiben, dann müssen wir ganzheitlich denken. Wenn ich die energieintensive Industrie loswerden will, dann bin ich zwar auf der guten Seite und dann ist Fratzscher okay. Aber die industrielle Produktion verlagert sich dann irgendwo hin, aber wahrscheinlich unter weit schlechteren Umweltstandards und damit klimaschädlicher. Das heißt, ich habe das Problem verschärft statt entschärft. Das ist das eine.

Das andere ist, dass man sich fragen muss, wie Deutschland weiterhin den Wohlstand sichern will, der bisher zum größten Teil aus den energieintensiven Industrie ermöglicht wird. Wenn dieser Wohlstand aufgrund chaotischer Energie- und Wirtschaftspolitik erodiert, sind soziale Verwerfungen vorprogrammiert. Dadurch wird auch eine konstruktive Energiewende unmöglich. Übrigens: Was sich derzeit weltweit als nächste Wirtschaftsentwicklung abzeichnet, ist sehr energieintensiv, u.a. durch KI und Rechenzentren. Da spielen wir aktuell kaum Rolle mehr, weil wir die Energie nicht kostengünstig bereitstellen können.

Quelle: LogReal World GmbH

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