Page 3 - LogReal.direkt_Ausgabe_2_2022
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Editorial






                                 Krise als Chance? Vielleicht …

                                 Man hat es irgendwie geahnt, vielleicht auch gefühlt: Mit der zu Pandemiebeginn von vielen Un-
                                 ternehmen beschworenen Stärkung der Resilienz von Lieferketten ist es nicht allzu weit her. Einer
                                 McKinsey-Untersuchung zufolge wurden vielfach zwar Lagerbestände erhöht. Nearshoring-Stra-
                                 tegien sind jedoch nur in den seltensten Fällen angedacht, geschweige denn umgesetzt worden.
                                 Mit dem Krieg in der Ukraine und dem Total-Lockdown in Shanghai sind die internationalen Liefer-
                                 ketten deshalb erneut unter Druck, und das noch mehr als zu den Hochzeiten der Pandemie.


                                 Neben der drohenden Energieversorgungskrise ist der Lebensmittelbereich der kritischste. 30 Pro-
                                 zent der weltweiten Weizen- und Gersteproduktion entfallen auf die beiden kriegführenden Länder
                                 Russland und Ukraine. Russland ist zudem ein wichtiger Lieferant von Düngemitteln. Auch wenn
                                 die EU-Länder vermutlich halbwegs glimpflich davonkommen, wenn die Mengen sinken und gleich-
                                 zeitig die Preise steigen: Die Welt der sich entwickelnden Volkswirtschaften wird davon nicht unbe-
                                 rührt bleiben bzw. (im Fall der ärmsten Länder) hart getroffen. UN-Generalsekretär António Guterres
                                 spricht bereits von einem „perfect storm“, der der Welt schlimmstenfalls bevorstehen könnte. Aber
                                 selbst ohne „storm“ bleiben die Aussichten trüb. Die globale Wirtschaft wird IWF-Prognosen zufol-
                                 ge in diesem Jahr um knapp einen Prozentpunkt weniger wachsen als ursprünglich angenommen.
                                 Deutschland wird sogar knapp zwei Prozent einbüßen.


                                 Für die heimische Logistikbranche und deren Immobilien bedeutet das zweierlei. Erstens: Es werden
                                 wieder einmal zusätzliche Lagerflächen benötigt, um wieder einmal Bestände hochzufahren (falls
                                 das überhaupt noch möglich ist angesichts gestörter Supply Chains und wachsender Knappheit in
                                 vielen Bereichen). Zweitens: Diese zusätzlichen Flächen müssen nicht nur CO 2 -neutral, sondern nach
                                 Möglichkeit energieautark sein, wie es Professor Alexander Nehm von der DHBW kürzlich gefordert
                                 hat. Denn eines haben die jüngsten Ereignisse unmissverständlich gezeigt: Die Abhängigkeit von
                                 fossilen Energien aus Importen hat keine Zukunft mehr. Das gilt auch für all die Zwischenlösungen,
                                 um die sich Wirtschaftsminister Robert Habeck notgedrungen in Fragen der kurzfristigen Gasversor-
                                 gung so emsig kümmert. Mittlerweile sollte es wirklich jeder verstanden haben: Die Energiewende
                                 beginnt nicht morgen, sondern jetzt.

                                 Bleibt die Frage, wo all die neuen Lagerflächen entstehen sollen. Alle traditionellen A-Standorte
                                 sind bekanntlich nahezu komplett ausgereizt in Sachen Flächen- und Arbeitskräfteverfügbarkeit.
                                 Aber auch in dieser Frage hat ein Umdenken eingesetzt, wie unser Leitartikel von Tobias Kassner
                                 (Garbe Industrial Real Estate) auf den Seiten 06 und 07 aufzeigt. Um es kurz zusammenzufassen:
                                 B- und C-Standorte werden auch vor dem Hintergrund der aktuellen Krisen immer interessanter.


                                 Steckt nicht in jeder Krise auch eine Chance? Sorry, aber dieses Gewäsch kann nach mehr als zwei
                                 Jahren Pandemie und fast drei Monaten Krieg in Europa wirklich niemand mehr hören. Und das zu-
                                 recht, wenn Projekte wie die Einführung der COVID-19-Impfpflicht als Vorsorge für den nächsten
                                 Winter politisch gedankenlos versemmelt werden. Sagen wir also einfach mal, was Sache ist: Krise
                                 ist in erster Linie Mist. Großer Mist.

                                 Bleiben Sie uns in der nun beginnenden schönen Jahreszeit trotzdem gewogen!


                                 Ihr
                                 Thomas Pool | Chefredakteur









                                                                                                   LogReal.Direkt 3
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