Von Professor Dr. Michael Schröder, DHBW Mannheim
Kennen Sie Dietrich von Kleve? Ich auch nicht. Er ist aber wohl der älteste Berufsbeamte, der urkundlich erwähnt ist – man schreibt das Jahr 1279 im römisch-deutschen Reich. Als „Vater des Berufsbeamtentums“ gilt dann später Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I., der – man beachte – das Gemeinwohl zum Primärziel seines Staates erhob. In meiner Schulzeit hatte ich später in der Sexta im Fach Sozialkunde sogar gelernt: Gemeinwohl vor Eigenwohl.

Warum ich das erwähne? Weil in den letzten vier Dekaden eine schleichende Umkehr dieser Prioritäten stattgefunden hat – und weil das in unserem Land ein entscheidender Grund für die zähe Initiierung und viel zu späte Umsetzung verkehrsinfrastruktureller Bauprojekte ist.
Heute gilt es als schick, Eigennutz vor Gemeinnutz zu feiern. In einer Zeit von Egomanen im Wahlvolk und übervorsichtiger Entscheidungsträger in der Verwaltung bekommen wir es nicht mehr gebacken, einfachste Bauvorhaben in einer normalen, praxisorientierten Bauzeit durchzuziehen.
Wissen Sie, was am 1. August 2019 passierte? Da wurde die Hochstraße in Ludwigshafen – da wohne ich – gesperrt. Die Lebensader von und in die Pfalz. Ohne Ankündigung, von einer Stunde zur nächsten. Nun ist es 2025, es sind fast sechs Jahre vergangen und im besten Fall kann Ende des Jahres mit einer Wiedereröffnung gerechnet werden. Nun muss man wissen, die Bagger sind erst Mitte 2023 gestartet. Unstrittig ist: Es müssen alle Vorgaben eingehalten werden. Nur: Wir reden hier über banale 530 Meter Fahrbahn. Okay, die ist aufgeständert, wohlgemerkt, aber seien wir ehrlich: In sechs Jahren hätten die Chinesen (Achtung: Satire) Ludwigshafen ab- und woanders wieder aufgebaut und noch einen Tiefseehafen angedockt.
So ist das eben in der EU: Die Europäische Kommission setzt fest, ab welchem Schwellenwert für Bauleistungen eine öffentliche Ausschreibung europaweit (!) durchgeführt werden muss. Die seit 1. Januar 2024 geltenden 5.538.000 Euro werden letztlich in jedem Bauvorhaben gerissen. Schnell, im Sinne von dringlich, ist anders.
Und die Menschen dabei? Sachbearbeiter und deren Vorgesetzte in Land und Kommune haben in einem Wald an Gesetzen, Paragraphen und diversen Vorgaben Angst vor einer falschen Entscheidung – wobei falsch auch bedeutet: politisch nicht gewollt. Bauanträge könnten selbstverständlich fachlich, nicht juristisch, in wenigen Stunden [sic!] erledigt sein, wenn (a) nur die richtigen Profis zusammensitzen würden, wenn (b) nicht über Hierarchiestufen hinweg delegiert werden würde und wenn (c) nicht alle in Sorge wären, dass „Wutrentner“ (Zitat: Spiegel) und Social-Media-Cancel-Culture-Experten und andere Weltverbesserer vor der Tür stehen würden. Denn wer braucht auch schon Straßen, Industrie und Logistik? Zufahrtswege, Brücken, Umschlagsanlagen oder schlicht: Orte der Wertschöpfung haben für viele Menschen keine Bedeutung. Wer ist die größte Wählergruppe in Deutschland? Eben.
Apropos Egoisten: In Berlin ist das Volksbegehren „Berlin autofrei“ vom Verfassungsgerichtshof für zulässig erklärt worden. Das mag in den Augen der Basisdemokraten als grandios gelten, für viele Pendler, die aus dem Brandenburger Umland zu ihrem Arbeitsplatz in Berlin hin- und abends zurückfahren müssen, ist es der Albtraum. Egal, dann sollen sie sich eben eine Wohnung im Stadtteil Prenzlauer Berg suchen.
Als alter Standorttheoretiker weiß ich übrigens – und könnte das auch der Politik mitteilen, wenn man mich nur fragen würde –, dass der Austausch von Personen wie Gütern von der Attraktivität zweier Orte abhängt, beispielsweise die Anzahl an Einwohnern oder die Summe an Quadratmetern Einzelhandelsfläche. Diese Attraktivitäten, nennen wir sie M (für Masse) ziehen sich an. Hemmend wirkt dagegen die Distanz zwischen den Orten. Formal ausgedrückt gilt damit:

Austausch zwischen den Orten i und j = k* (Mi * Mj)/〖(dij)〗^2 , mit M als Attraktivität des Ortes, k als Konstante und d als Distanz. Der geneigte Leser und die geneigte Leserin erkennen hier übrigens das Gravitationsgesetz der Physik. Einfach ausgedrückt: Je kleiner die Distanz – nicht nur räumlich gesehen, sondern auch und insbesondere in zeitlicher Hinsicht! – desto höher die Anziehung, also der Austausch zwischen Städten und/oder Regionen. Und was minimiert den Nenner? Genau, eine gute Verkehrsinfrastruktur.
Sie finden das weltfremd? Mitnichten, denn immerhin wird so die Vorteilhaftigkeit in der Verkehrsinfrastrukturplanung gerechnet – oder wie denken Sie, haben Schweden und Dänemark sonst die Øresundbrücke beschlossen? Malmö und Kopenhagen ziehen jeweils Menschen jenseits des Sunds an. Übrigens herzlichen Glückwunsch zum 25-Jährigen!
Bildquelle: LogReal World GmbH